Sensate Focus – Berührung in Achtsamkeit

18. Nov. 2023

„Wenn Worte die Währung der Poesie sind und Farben die Währung der Kunst, dann ist Berührung die Währung des Sex».

Mit diesen Worten beschreiben die Vorreiter*innen der Sexualforschung Master, Johnson und Kolodny die zentrale Bedeutung von Berührung in Achtsamkeit (Sensate Focus) für unsere Sexualität. Master und Johnson verdanken wir eine der mächtigsten therapeutische Instrumente für die Lösung von sexuellen Problemen: Das „Sensate Focus“. Interessanterweise basiert diese Intervention auf der Praxis der Achtsamkeit, der liebevollen wertfreien Wahrnehmung dessen, was gerade ist. Dabei lernt man, sich von ablenkenden Gedanken und Stimmungen immer wieder innerlich zu distanzieren. Diese Praxis ermöglicht, sich auf den Moment zu fokussieren und die körperlichen Empfindungen deutlicher wahrzunehmen. Dadurch geben wir unseren Lustempfindungen freien Raum sich zu entfalten.

In dem Buch von Linda Weiner und Constance Avery-Clark, Sensate Focus in Sex Therapy, findet sich die Wirkungsweise von Achtsamkeit einfach und überzeugend beschrieben. Das ermutigt und inspieriert es auszuprobieren. Das Buch ist zur Zeit nur auf Englisch. Weil ich das Thema so wichtig finde und in meiner Arbeit – als Sexualtherapeutin und als Leiterin von Tantra-Selbsterfahrungsgruppen – zentrale Bedeutung hat, habe ich mir erlaubt, die zentralen Aussagen zusammenzufassen und diese zu übersetzten. Ich hoffe, Du kannst dich auch inspirieren lassen!

Was ist Sensate Focus?

Die elegante, einfache und geradlinige Technik von Sensate Focus ist eine radikale Abkehr von unseren kulturellen Skripten darüber, wie Sex stattfindet. Sensate Focus ist eine Reihe von strukturierten Berührungs- und Entdeckungsvorschlägen in einem klaren Setting. Dieser klare Rahmen bietet die Möglichkeit, den eigenen Körper und den des*der Partners*in auf eine nicht fordernde, erforschende Weise zu erleben, ohne die Gedanken der anderen Person lesen zu müssen. Ergebnissoffene Erkundung ist definiert als Berührung aus eigenem Interesse (=nach eigenem Belieben). Diese findet ohne Rücksicht auf den Versuch statt, eine sexuelle Reaktion, Vergnügen, Genuss oder sogar Entspannung für sich selbst oder den*die Partner*in zu bewirken oder zu verhindern. Berührungen aus eigenem Interesse werden weiter definiert als Konzentration auf die Berührungsempfindungen von Temperatur, Druck und Textur. Temperatur, Druck und Beschaffenheit werden noch genauer definiert als kühl oder warm, hart oder weich (fest oder leicht) und glatt oder rau.

Warum basiert Sensate Focus auf Berührung?

In den Upanishaden, einem der ältesten spirituellen Texte, heißt es, dass die Energie, die die gesamte Schöpfung trägt, sich als die Wärme manifestiert, die entsteht, wenn wir berührt werden. Es ist klar, warum Berührung so kraftvoll ist. Aber warum sollte die Konzentration auf Berührungsempfindungen Menschen mit sexuellen Problemen helfen?

Es gibt dafür drei gute Gründe:

  • Berührung ist verlässlich und greifbar – Die Aufmerksamkeit auf Empfindungen zu lenken ist eine neutrale und greifbare Alternative zur Konzentration auf beunruhigende Gedanken und Gefühle, die oft stark zu sexuellen Problemen beitragen.
  • Das Tor zur Erregung – Die Hinwendung zu Berührungsempfindungen ist oft das stärkste Tor zur sexuellen Erregung.
  • Der Zugang zu sexueller Intimität mit einem Gegenüber – Schließlich führt die Konzentration auf die Berührungsempfindungen nicht nur zur eigenen Erregung, sondern auch zu der des*der Partners*in.

Sex ist eine natürliche Funktion

Sensate Focus basiert auf einem besonderen Konzept: Sex ist eine natürliche Funktion. Wir werden mit natürlichen Funktionen geboren und alle natürlichen Funktionen haben drei Merkmale gemeinsam:

  • Erstens sind alle natürlichen Funktionen – abgesehen von schweren organischen Erkrankungen – bereits vor der Geburt in uns angelegt. Dazu gehören vegetative Funktionen wie Atmung oder Verdauung und emotionale Reaktionen wie Freude, Entspannung und Vergnügen. Jungen haben in der Gebärmutter eine Erektion, und neugeborene Mädchen können vaginal feucht werden.
  • Natürliche Funktionen müssen uns nicht beigebracht werden und können uns auch nicht beigebracht werden. Wir haben keine direkte Kontrolle über natürliche Funktionen.
  • Schließlich haben wir zwar eine gewisse Fähigkeit, unsere natürlichen Funktionen zu kontrollieren (Wir können den Atem anhalten), aber wir haben nicht die Fähigkeit, diese Funktionen absichtlich auszulösen oder sie zu verhindern.

Das Paradox der sexuellen Ansprechbarkeit

Das Gleiche gilt für das sexuelle ›Funktionieren‹. Das Paradox des sexuellen Verlangens, der Erregung und des Orgasmus besteht darin, dass sie umso unwahrscheinlicher werden, je mehr man sich bewusst darum bemüht, sie zu erreichen. Bewusste Absicht erzeugt enorme Ängste, weil man einfach keine direkte, freiwillige Kontrolle darüber hat, ob man sich selbst oder jemand anderen sexuell erregt.

Was tun Menschen (anders), die beim Sex Befriedigung und Erfüllung erleben?

In verschiedenen Studien konnten Sexualforscher*innen einige Grundfaktoren herausfinden, die Menschen ermöglichen ein befriedigendes und erfüllendes Sexleben zu gestalten. Hier diese zentralen Fertigkeiten. Menschen, die sexuell erfüllt sind, praktizieren drei Fertigkeiten, die Sex als eine paradoxe natürliche Funktion ehren:

  • Während sie ihre Partner*innen berühren, berühren sie sich selbst und nicht nur ihre Partner*innen;
  • Während sie berühren oder berührt werden, konzentrieren sie sich auf die Berührung aus eigenem Interesse, Neugier oder Erkundung (definiert als Konzentration auf taktile Empfindungen) und nicht hautpsächlich aus der festen Absicht, Erregung, Vergnügen, Entspannung, Genuss oder einer anderen Emotion zu erzeugen;
  • und sie sind in der Lage, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Empfindungen zu bringen, wenn sie abgelenkt sind.

 

Wie funktioniert Sensate Focus, Berührung in Achtsamkeit?

Das Verständnis für die Rolle der natürlichen Funktion und diese drei Einstellungen sind die Grundlage von Sensate Focus:

  • Berührungen für sich selbst vs. Berührungen für den*die Partner*in. Es wird die radikale Idee vertreten, dass sexuelle Ansprechbarkeit im Wesentlichen auf das eigene Ich ausgerichtet ist. Das bedeutet, dass man sich hauptsächlich auf das eigene Erleben und nicht auf das des*der Partners*in konzentrieren sollte, um sexuell empfänglich zu werden.
  • Berührungen aus Interesse, indem man sich auf die Empfindungen konzentriert, im Gegensatz zu Berührungen zum Vergnügen oder zur Erregung. Es wird ermutigt, sich von Urteilen, Erwartungen und Bewertungen über Erregung und Vergnügen zu lösen, da dies zu einer anspruchsvollen, leistungsorientierten Denkweise führt. Es ist jedoch unmöglich, sich nicht mit diesen Urteilen, Erwartungen und Bewertungen zu beschäftigen, wenn man sich nicht stattdessen auf etwas anderes konzentrieren kann. Sensate Focus bietet genau das, eine verlässliche Alternative zu ängstlichen Gedanken in Form von konkreten, greifbaren Berührungsempfindungen im Hier und Jetzt. Diese Berührungsempfindungen werden als Temperatur, Druck und Textur identifiziert, und noch konkreter als kühl oder warm, fest (hart) oder leicht (weich) und glatt oder rau, so dass es keine Verwirrung darüber gibt, worauf sie sich anstelle von Urteilen, Erwartungen und Bewertungen konzentrieren können.
  • Identifizierung von und Umgang mit Ablenkungen. Der dritte Aspekt bei der Umsetzung von Sensate Focus ist die Identifizierung und Bewältigung von Ablenkungen, insbesondere von solchen, die mit der Forderung nach natürlichen Reaktionen wie Erregung, Vergnügen, Entspannung und Genuss zu tun haben.

Der Zweck von Sensate Focus: Achtsames Berühren für das eigene Interesse

Der Hauptzweck von Sensate Focus lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: «Jede*r Partner*in berührt (und lässt sich berühren) für sich selbst und konzentriert sich auf seine eigene Sinneserfahrung, ohne das Ziel zu verfolgen,  (sexuelles) Vergnügen bei sich selbst und/oder beim Gegenüber zu bewirken (vgl. Weiner & Avery-Clark, 2013). Es geht in erster Linie – und vor allem zu Anfang dieser Praxis – darum, schlichtes Interesse zu entfalten, das absichtsfrei und ergebnisoffen ist. Reine Wahrnehmung ist der Fokus, weniger das Zaubern von Vergnügen und Wohlsein, weder bei sich noch beim Gegenüber. Das ergibt sich laut den Autor*innen und den dazu passenden Studien dazu mit der Zeit dank der Praxis der Achtsamkeit. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Bedürfnisse und Grenzen des*der Partner*in nicht respektiert werden. Dafür werden ganz genaue Spielregeln vermittelt. Dies entspricht dem, was als Praxis der Achtsamkeit bekannt geworden ist. Sensate Focus ist eine Achtsamkeitspraxis.

Fazit

Nach diesen meines Erachtens gut nachvollziehbaren Gedanken, sollten wir nicht mehr viel Zeit verstreichen lassen und die Möglichkeiten ausschöpfen, mehr Achtsamkeit im Sinne von Präsenz, Anwesenheit im eigenen Körper zu pflegen. Erste Schritte in diesem Sinne kannst Du bei den Selbsterfahrungsangeboten unternehmen. Wenn Du mehr über achtsame sinnliche Berührung lernen möchtest, empfehle ich dir den Videokurs über dieses Thema.

Quelle

Weiner, L., & Avery-Clark, C. (2017). Sensate Focus in Sex Therapy: The Illustrated Manual (English Edition) [Kindle iOS version]. Retrieved from amazon.com

Zusammen gefasst und übersetzt von Susanna-Sitari Rescio

Foto: Thomas Raupach