Sex, Gott und das Hirn: Lese hier, wie sexuelle Lust Spiritualität, Religion und noch viel mehr hervorbrachte. Religionen sind aus dem Sex entstanden, das behauptet der Neurowissenschaftler Dr. Andrew Newberg in seinem 2024 erschienen Buch Sex, God and the Brain. Religion und Spiritualität teilen demnach dieselben neuronalen Verbindungen. Newberg hat in den letzten 30 Jahren die Beziehung zwischen unserem Gehirn und unserem religiösen und spirituellen Selbst erforscht. Er ist Forschungsleiter am Marcus Institute of Integrative Health und Arzt am Jefferson University Hospital. Über seine Arbeit wurde in einer Reihe von großen Medien berichtet.

In diesem Blogartikel habe ich einige der wichtigsten Ergebnisse aus seiner Forschung aus dem Englischen übersetzt und zusammengefasst.

Sex, Gott und das Hirn: Sind Spiritualität und Sexualität miteinander verbunden?

Wie in der Bibel im Buch Genesis beschrieben wird, erzählt Newberg in einem Interview zu seinem Buch,  Gott segnet die Menschen, sobald er sie erschaffen hat, und sagt: „Seid fruchtbar und mehret euch“, bevor er hinzufügt: „Glaubt an mich“. Bevor Gott sagt, dass wir uns in der Religion engagieren sollen, sagt Gott den Menschen, dass sie sich fortpflanzen sollen. Das tun wir durch Sexualität. Es ist ein kreativer Prozess. Wenn wir zur allerersten Zeile in der Bibel zurückgehen, was tut Gott dann vor allem anderen? Gott erschafft den Himmel und die Erde. Gott ist die schöpferische Kraft, die im Kontext der Religion alles um uns herum erschafft. Ob Sie nun an Gott glauben oder nicht, das Konzept der Schöpfung und der Fähigkeit, etwas zu erschaffen, steht im Mittelpunkt praktisch jeder spirituellen Tradition». Sex und Gott scheinen eine enge Verbindung in unserem Hinr zu haben.

«Vielleicht ist Sexualität die Art und Weise, in der wir biologisch die andere Hälfte unseres Selbst finden, und Religion ist die Art und Weise, in der wir spirituell die andere Hälfte unseres Selbst finden – unsere Verbindung mit Gott oder einer ultimativen Realität. […] Wenn Gott existiert, macht es Sinn, dass das Gehirn über einen Mechanismus verfügt, mit dem wir Gott verstehen, mit Gott interagieren und zu Gott beten können» 

Paarungsrituale von Tieren und menschliche Rituale

Das Ganze hat seinen Ursprung bei den Paarungsritualen von Tieren, so Newberg. Diese hätten den neurologischen Rahmen für die Entwicklung von Mythen, Prophezeiungen, Weissagungen, Erfahrungen transzendenter Zustände und Realitätsmodellen geschaffen. Hier hat die Forschung über den Zusammenhang zwischen Sex, Gott und Hirn angefangen.

Paarungsrituale sind dafür da, damit zwei Individuen der gleichen Spezies zusammen kommen, sich verbinden und daraus neues Leben entstehen kann. Und darum geht es bei allen weiteren Ritualen, die sich durch die Evolution der Menschheit weiter entwickelt und verbreitet haben. Das können religiöse und spirituelle Rituale sein, Kochrituale, Morgenrituale und Arbeitsrituale. Es handelt sich um verschiedene Praktiken, die wir rhythmisch ausführen, um uns zu erden und uns mit uns selbst und mit dem, womit wir uns verbunden fühlen, verbunden zu halten. Rituale dienen heute noch uns Menschen, das Gefühl der Verbundenheit zu einem anderen ausgewählten Menschen oder zur Gemeinschaft oder zu Gott in welcher Form auch immer, sich jemand Gott vorstellen mag.

Parungsrituale und die Entstehtung von Religion

Darum sind laut Newberg Paarungsrituale die Grundlage für die Entstehung von Religionen und weil diese ihre Kraft aus der sexuellen Erfahrung beziehen, erkannten Newberg und sein Team, dass die Neurobiologie von Sex eng mit Spiritualität und Religion verbunden sein musste. Die Verbindung zwischen Sexualität und den Ritualen, die wir als Menschen haben, einschließlich der spirituellen Rituale, scheint also auf einer Jahrmillionen langen Evolution zu beruhen. Die Paarungsrituale der Tiere verbinden uns mit uns selbst und vor allem mit einem anderen, so dass wir eine sehr tiefe Erfahrung machen können, die zur Zeugung der nächsten Generation unserer Art führt. Bis zu einem gewissen Grad ist es genau das, was passiert, wenn wir uns auf ein religiöses oder spirituelles Ritual einlassen. Wir verbinden uns mit anderen und empfinden ein Gefühl der Ekstase, und das führt zur nächsten Generation von Menschen, die an die Tradition glauben, der wir folgen.

Sex und Gott teilen sich dieselben Areale im Gehirn

Um die Hypothese zu erforschen, dass Sex und Gott im Hirn aufeinandertreffen, wurden Hightech-Scans des funktionellen Gehirns von vierzig Teilnehmenden an der Orgasmischen Meditation durchgeführt. Die Auswertung der Scans zeigte eindeutig eine Überschneidung der Gehirnstrukturen, die mit sexuellen und spirituellen Erfahrungen zu tun haben. In dieser Meditation verbinden sich sowohl sexuelle Erregung als auch die Suche nach spirituellen Erlebnissen.

Ist dies der Grund, weshalb einige Religionen den Sex als buchstäblich konkurrierend um die gleichen Gefühle wie spirituelle Ekstase sehen, und darum der Sex so massiv unterdrückt wurde und immer noch wird? Laut Newberg ist diese Hypothese durchaus realistisch.

Wie entstand der religiöse Glauben?

«Einige haben behauptet, dass der religiöse Glaube dazu beigetragen hat, zusammenhängende Gesellschaften zu schaffen, indem er einen Sinn für Moral und ein Gefühl für Gemeinschaft vermittelt hat. Die organisierte Struktur dieser Gesellschaften basierte fast ausschließlich auf religiösen Ritualen und Praktiken. Die Grundsätze der Religionen, einschließlich der Geburts-, Todes- und Führungsrituale, durchdrangen diese Gesellschaften und schufen den Zusammenhalt unter den Menschen. Auch ihre Geschäfts- und Verhaltensregeln wurden von religiösen Überzeugungen geleitet. Die Bibel und andere heilige Texte bieten ein System der Moral durch Konzepte wie die Zehn Gebote. Die meisten Menschen kennen nur die zehn Gebote, aber die Bibel enthält insgesamt 613 Gebote, von denen sich viele auf rechtliche oder finanzielle Angelegenheiten beziehen.

Andere Wissenschaftler*innen haben die Möglichkeit erörtert, dass die Religion keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt schafft, sondern ein komplexer „Signal“-Mechanismus zur Identifizierung der Menschen innerhalb einer Gruppe ist.

Wieder andere haben vorgeschlagen, dass Religion als Nebenprodukt eines hochkomplexen Gehirns entstanden ist, das in der Lage ist, Fragen über die Natur der Realität zu stellen und komplexe soziale und wissenschaftliche Probleme zu lösen.

Wenn das Gehirn komplex genug ist, um über den Ursprung des Universums nachzudenken oder darüber, warum der Mensch unter den Tieren so einzigartig zu sein scheint, wird es vielleicht auch auf die Idee mit Gott kommen».

Evolution und adaptive Merkmale

Evolution basiert auf der Fähigkeit eines Tieres, die nächste Generation seiner Art zu erzeugen. Es scheint also, dass jedes evolutionäre Modell eines bestimmten Merkmals irgendwie mit der Paarung verbunden sein muss. Daher, argumentiert Newberg weiter, erschien es ihm immer sinnvoll, dass in unserem Hinr Sex aus evolutionärer Sicht etwas mit Gott zu tun haben muss.

Evolution basiert auf zwei Hauptmechanismen: die natürliche Auslese (das Überleben derjenigen, die sich besser anpassen können) und die sexuelle Selektion. Dabei geht es darum, wie die Partner*innen innerhalb einer bestimmten Tierart ausgewählt werden.

Spiritualität als eine physische und eine sexuelle adaptive Eigenschaft

Eine wichtige Frage ist, ob Religion und Spiritualität beim Menschen eine physisch adaptive Eigenschaft ist, die zu einem besseren Gesamtüberleben führt, oder eine sexuell adaptive Eigenschaft, die zu besseren Paarungsstrategien führt. Religion und Spiritualität sind wahrscheinlich in zweifacher Hinsicht anpassungsfähig.

Religion, so Newberg, lässt sich mit zwei der grundlegendsten Gehirnprozessen – Selbsterhaltung und Selbsttranszendenz – verbinden. Diese weit gefassten Ziele der Gehirnfunktionen helfen uns, physisch zu überleben (Selbsterhaltung), und helfen uns, im Leben zu wachsen und tiefere Verbindungen zur Welt um uns herum herzustellen (Selbsttranszendenz). Wenn die Religion jedoch einen Mechanismus für beide Prozesse bietet, bedeutet dies, dass sie sowohl zum physischen Überleben (durch die Aufrechterhaltung des Selbst) als auch zur sexuellen Selektion (Herstellung persönlicher – und sexueller – Verbindungen) beiträgt. Auch in dieser Aspekt lässt sich eine Verbindung zwischen Gott und den Sex im Gehirn vermuten.

Woher kommen all diese Rituale?

Die einfache Antwort lautet: Sex. Betrachtet man praktisch alle Tierarten, so handelt es sich bei den Tierritualen um Paarungsrituale. Sie wurden in die Physiologie praktisch aller Tiere auf unserem Planeten eingebaut, um Sex zu ermöglichen. Letztlich haben alle Rituale eine wichtige Funktion: Sie verbinden uns auf kraftvolle Weise mit der Welt und miteinander. Die Grundlage von Paarungsritualen darin besteht, zwei Tiere miteinander zu verbinden, um die nächste Generation hervorzubringen. Natürlich gibt es nicht in jeder Kultur die gleichen Rituale, aber letztlich benötigen alle eine Art von Rhythmus, um zwei Menschen zusammenzubringen.

Was für eine Rolle spielen Rhythmen dabei?

Bestimmte Rhythmen, vor allem solche mit schnellem Takt, aktivieren den Sympathikus oder die Erregungsseite des vegetativen Nervensystems. Evolutionär gesehen ist das autonome Nervensystem einer der ältesten Teile unseres Gehirns und Körpers.

Spirituelle Erfahrungen sind in der Regel sowohl mit starken Gefühlen der Erregung und des Bewusstseins als auch mit tiefen Gefühlen der Glückseligkeit verbunden. Es ist wichtig, sowohl aktive als auch passive Elemente zuzulassen. So entsteht der Rhythmus, der das Ritual antreibt und zur Ekstase führt.

Aus evolutionärer Sicht ist dieser physiologische Effekt von entscheidender Bedeutung. Es ist wichtig, dass sich Sex gut anfühlt, sonst würden die Tiere es nicht tun. Die Erregung fühlt sich gut an, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Das Tier muss ermutigt werden, den Sexualakt zu vollenden, und deshalb muss sich der Höhepunkt noch besser anfühlen. Das mächtige Gefühl der Glückseligkeit direkt nach der intensiven Erregung ist der Trick. Das Gleiche gilt für geistige Aktivitäten.

Die doppelte Rolle des Nervensystems

Obwohl eine der beiden Seiten des autonomen Nervensystems in hohem Maße eingeschaltet werden kann, gibt es eine faszinierende und komplexe Möglichkeit, die als nächstes passieren kann.

Das autonome Nervensystem ist das, was unser Gehirn mit unserem Körper verbindet und es uns ermöglicht, Gefühle der Erregung und Energie oder der Ruhe und Glückseligkeit zu erleben. Wenn Menschen religiöse und spirituelle Praktiken ausüben, können sie eine dieser beiden Arten von Erfahrungen machen.

Manchmal kann eine Meditationspraxis ein Gefühl tiefer Glückseligkeit hervorrufen, und manchmal kann eine sehr energetische spirituelle Praxis dazu führen, dass man sich erregt, aufmerksam und aufgeregt fühlt. Das Faszinierende am autonomen Nervensystem ist, dass es zwar diesen Erregungs- und Ruhemechanismus in sich trägt, aber auch sehr aktiv ist, wenn wir sexuell aktiv sind. Tatsächlich sind sowohl die erregenden als auch die beruhigenden Teile des autonomen Nervensystems notwendig, damit wir überhaupt Sex haben und ein Gefühl von Orgasmus und Ekstase erleben können. Wenn wir uns all diese Veränderungen ansehen, können wir erkennen, wie stark Sexualität und Spiritualität im Gehirn miteinander verbunden sind.

In Wirklichkeit sind es die rhythmischen Reize verschiedener Rituale, die das ganze System antreiben. Religiöse Rituale sind dafür besonders gut geeignet, da sie das rituelle Gehirn, das ursprünglich für die sexuelle Paarung entwickelt wurde, übernommen haben.

Welche sind die Kernelemente von spirituellen Erfahrungen?

Durch die Forschungsarbeiten, die Newberg und sein Team durchgeführt haben, waren sie in der Lage, die fünf Kernelemente spiritueller Erfahrungen abzuleiten. Ihre Analyse ergab das Vorhandensein von

  • Einem Gefühl der Intensität,
  • Einem Gefühl der Klarheit,
  • Einem Gefühl der Einheit,
  • Einem Verbundenheit sowie
  • Einem Gefühl der Hingabe.

Wichtig ist, dass jedes dieser Elemente mit bestimmten Gehirnarealen verbunden ist. Diese gegenseitige Aktivierung ist mit starken Gefühlen der Erregung und Ekstase sowie tiefer Glückseligkeit verbunden, und zwar in einem stärkeren Maße als bei jeder anderen Erfahrung. Das letzte Merkmal intensiver, mystischer Erfahrungen ist ihre transformierende Wirkung auf den Menschen. Wir wissen nicht, ob diese Erfahrungen Bahnen freisetzen, die zuvor inaktiv waren, oder ob vielleicht das gesamte Gehirn neu verdrahtet wird. Auf jeden Fall verändern diese ekstatischen Erfahrungen die Menschen für immer.

Gleiche Hirnareale und Prozesse werden beim Sex aktiviert. Wenn man sich auf die körperlichen Rhythmen des Sex einlässt, treibt man die Aktivität des Hypothalamus an, welcher seinerzeit den Thalamus und die Amygdala ebenfalls aktiviert. Anschließen schalten sich die Parietal- und die Frontalappen ein. Diese verschiedene Hirnareale ermöglichen ein starkes Gefühl emotionaler Intensität und Klarheit, das Nachlassen des Selbstgefühls während das Erleben des Einsseins mit dem Gegenüber eintreten kann, später können Gefühle von Hingabe und Loslassen – genau wie bei mystischen Erfahrungen erlebt werden.

Wie wir durch diese Ergebnisse deutlich sehen können, ist dass das spirituelle Gehirn direkt mit dem sexuellen Gehirn verbunden. Newberg und sein Team konnten zeigen, dass es spirituell und biologisch sinnvoll ist, Sexualität und sexuelle Energie mit machtvollen Erfahrungen zu verbinden. Es stellt sich heraus, dass Spiritualität uns helfen kann, auf dieses System fast so effektiv wie Sex zuzugreifen, wenn nicht sogar noch effektiver. Diese Beziehung ist nicht nur für die Verbindung von sexueller und spiritueller Ekstase äußerst wichtig, sondern auch dafür, wie diese Verbindung zu so vielen anderen Aspekten von Religion und Spiritualität führt.

Quellen