Sexuelle Potenz. Was ist das?
Sexuelle Potenz. Was genau ist das? Was versteht sich allgemein und was davon ist fundiert? Meistens wir sexuelle Potenz mit männlicher Sexualität in Verbindung gesetzt. Sie gilt als Erektionsfähigkeit und Immer-Wollen-Und-Können von Seiten der Männer. Ein ziemlich verbreiteter Glaubenssatz, oder? Ich möchte in diesem Artikel einpaar Fakten erwähnen und eine neue Perspektive über dieses Thema anbieten.
Was versteht man unter ’sexueller Potenz‘?
Unter ‚sexueller Potenz‘ wird meist etwas verstanden, das ausschließlich mit der sexuellen Fähigkeit des Mannes zu tun hat
- eine Erektion zu bekommen
- diese zu halten, so dass der Geschlechtsakt selbst (die Penetration) möglich ist
- diese Erektion auch lange genug zu halten
- darüber hinaus immer und so gut wie in jeder Situation, sexuell aktiv sein zu können (= erigiert zu sein)
- bei jeder Gelegenheit Sex zu wollen
- immer zum Höhepunkt (als Ejakulation verstanden) zu kommen
- und selbstverständlich, den*die Partner*in zu befriedigen, und das heißt sie oder ihn zum Orgasmus zu bringen
Diese Definition von ‚sexueller Potenz‘ ist zwar sehr verbreitet, allerdings spiegelt sie nur die halbe Wahrheit wider. Diese Definition schränkt das sexuelle Spiel lediglich auf die Durchführung der Penetration durch den Mann ein und verleiht weiteren sexuellen Variationen einen zweitrangigen Wert. Andere wichtige Aspekte, die mit sexueller Potenz zu tun haben, werden dabei gar nicht erst erwähnt.
Was macht also ‚sexuelle Potenz‘ aus?
Fakt ist und bleibt: Um Geschlechtsverkehr haben zu können, braucht es meist ganz klar eine ausreichende Erektion (ausgeschlossen sind hier die Slow-Sex Variationen).
Das ist aber lange nicht alles, was „gebraucht“ wird, um SEXUELL POTENT zu sein. Nämlich die Art des Umgangs mit Erregung und im Einzelnen WIE mit dem Penis bzw. mit der Vagina und mit dem gesamten Körper beim Sex umgegangen wird, macht einen wesentlichen Unterschied im sexuellen Erleben. Das ist der entscheidende Faktor, der sexuelle Potenz im sexologischen Sinn definiert.
Hier also ein paar Fakten zur ‚sexuellen Potenz‘
Sexuelle Potenz betrifft nicht nur Männer, sondern alle sexuelle Wesen, also Frauen auch und ebenso alle die sich nicht in einer heteronormativen Welt zu Hause fühlen:
Sexuelle Potenz
- hat nicht mit der Häufigkeit des sog. sexuellen Aktes zu tun.
- hat nicht mit der Tatsache zu tun, dass jemand immer will.
- hat nicht mit der Tatsache zu tun, dass jemand immer kann.
- hat nicht mit der Anzahl von Orgasmen, die innerhalb einer gewissen Zeit erlebt werden können.
- hat nicht mit der Fähigkeit zu tun, dem andern einen Orgasmus zu besorgen.
Sexuelle Potenz
- hat in allererster Linie mit der Fähigkeit zu tun, sich den Lustgefühlen voll und ganz hinzugeben,
- d.h. den unwillkürlichen Bewegungen und Impulsen des Körpers nachzugehen,
- zeitweise auch die Kontrolle über den Körper zu verlieren, ihm quasi die Regie zu überlassen,
- Manchmal das Gefühl von Raum und Zeit zu verlieren und dabei ganz besondere Erlebnisse erfahren: Verschmelzung, Liebe, Einsein mit dem Universum Ekstase etc.
Der Körper weiß es besser!
Ja, genau! Der Körper weiß es besser. Er lügt nicht. Er kann nicht lügen. Sexuelle Potenz betrifft das WIE wir Sex haben, mehr als das WIE OFT. Wie unser Körper dabei beteiligt ist und ob sein Potenzial zur Geltung kommt oder nicht. Noch genauer, wie sich das Spiel der Ressourcen des Körpers – Bewegung, Atmung, Spannung und Rhythmus – gestaltet.
Je mehr Anspannung im Körper, je flacher die Atmung, je enger, schneller und mechanischer die Bewegungen, desto kleiner ist meist die Genussfähigkeit und das Lusterleben. Je mehr Bewegung und dynamische Spannung, tiefe Atmung, Spiel mit den verschiedenen Rhythmen, desto mehr Erregung und Lustgefühle können sich im Körper ausbreiten.
Sexuelle Potenz und Wilhelm Reich
Tatsächlich wurde der Potenz-Begriff ursprünglich für den Mann verwendet. Wilhelm Reich, der Begründer der Körpertherapie, beschreibt es so: „Man nannte einen Mann potent, wenn er den Geschlechtsakt ausführen konnte“. Der Fokus ist laut dieser Definition auf die Erektionsfähigkeit gelegt, doch diese Männer erleben oft beim Samenerguss keine Lust, geringe Lust oder sogar das Gegenteil davon, Ekel und Unlust.
Bis 1923, dem Geburtsjahr der Orgasmustheorie durch Wilhelm Reich, kannte man sexuelle Potenz lediglich als Fähigkeit, eine Erektion zu bekommen und anschließend ejakulieren zu können. Diese Aspekte sind aber laut Reich nur Vorbedingungen für die von ihm so genannte orgastische Potenz (= sexuelle Potenz). Die orgastische sexuelle Potenz ist demnach „die Fähigkeit zur Hingabe an das Strömen der biologischen Energie ohne jede Hemmung, die Fähigkeit zur Entladung der hochgestauchten sexuellen Erregung durch unwillkürliche lustvolle Körperzuckungen“.
Die Phasen des sexuellen Erlebens nach Wilhelm Reich
Reich unterscheidet zwei Phasen im sexuellen Erleben, eine willkürliche und eine unwillkürliche.
- In der ersten Phase wird aktiv von beiden Partner*innen die Erregung gesucht.
- Die Partner*innen sind zärtlich zueinander. Beide sind gleich aktiv.
- Das Genital schwill an. Bei der Frau wird die Vagina feucht und empfänglich. Der Mann spürt den Drang, einzudringen.
- Beim gegenseitigen Kontakt der Genitalien bzw. bei Einführung des Penis in die Vagina steigert sich die Lust bei beiden.
- Der Drang tief einzudringen bzw. ausgefüllt zu werden, steigt.
- Die Erregung konzentriert sich durch die beidseitige, langsame, spontane und nicht angestrengte Reibung der Genitalien.
- Das Ich ist darauf konzentriert, alle Lustmöglichkeiten auszuschöpfen. „Nach übereinstimmenden Mitteilungen potenter Männer und Frauen sind die Lustempfindungen um so stärker, je langsamer und linder die Reibungen und je besser sie aufeinander abgestimmt sind.“
- Beides, Sprechen und Lachen, deutet auf schwere Störungen des Vermögens zur Hingabe hin, die ungeteiltes Versinken in der strömenden Lustempfinden voraussetzt.
- In dieser Phase ist die Unterbrechung der Reibung ohne seelischen Aufwand durchzuführen.
- Pausen lassen die Erregung immer mehr steigern und den ganzen Körper ergreifen.
In der zweiten Phasen übernimmt der Körper die Regie und unwillkürlichen Bewegungen und Kontraktionen finden statt:
- Die Steigerung der Erregung kann nicht mehr reguliert werden.
- Es setzt ein süßliches Empfinden ein.
- In dieser Phase ist die Unterbrechung des Aktes für beide absolut unlustvoll.
- Das Bewusstsein ist eingeschränkt, getrübt und auf den Akt selbst fokussiert. Alles andere schwindet in den Hintergrund der Wahrnehmung. Raum- und Zeitgefühl verändern sich.
- Der ganze Körper ist von der Erregung erfasst.
- Der Höhepunkt wird durch unwillkürliche Kontraktionen der Beckenbodenmuskulatur erreicht.
- Die Erregung klingt in sanfter Kurve aus. Eine wohlige körperliche und seelische Entspannung sowie eine zärtliche Stimmung breiten sich aus.
Zusammenfassung
Sexuelle Potenz hat weniger mit dem WIE OFT und mehr mit dem WIE wir Sex haben zu tun und setzt einige Aspekte voraus, darunter die Fähigkeit:
- sich den unwillkürlichen lustvollen Zuckungen des Orgasmus hingeben zu können
- zeitweise die Kontrolle an den eigenen Körper abgeben zu können
- dabei die sexuelle Erregung komplett abbauen zu können
- sich sowohl körperlich als auch emotional auf das lustvolle Erleben einzustellen
Diese Fähigkeiten sind zum großen Teil erlernbar und erweiterbar. Sexualität ist zum großen Teil ein Lernprozess.
Mir liegt es allerdings fern, ein Problem zu schaffen, wo es keins gibt. Das heißt aber nicht, dass es für alle ein Schema X der „Potenzsteigerung“ gibt und genauso wenig muss es überhaupt unbedingt etwas zu „steigern“ geben: Solange zwei Menschen eine für sich befriedigende Form des (a-)sexuellen Austausches miteinander gefunden haben, ist diese Form für sie absolut richtig. Wenn dies nicht der Fall sein sollte und ein*e Partner*in oder beide unbefriedigt sind, könnte eine Auseinandersetzung mit dem WIE sie Sex haben, zu einer Aufweichung von Mustern führen, die das sexuelle Potenzial möglicherweise eingeschränkt haben. Inwieweit sich jemand auf einen solchen Veränderungsprozess einlassen möchte, ist sehr individuell und auch keine absolute Notwendigkeit. Gerade in einer Zeit, in der Selbstoptimierung zu einer fast unwiderstehlichen Norm geworden ist, scheint es mir zunehmend sympathischer, diese Tendenz selbstironisch zu betrachten und sich diesem gesellschaftlichen Zwang mit unter auch zu entziehen.
Was kann man tun?
In diesem Sinne empfehle ich meinen Leser*innen eine kritische Überprüfung, ob es für sie passt und Sinn macht, die Anregungen zu befolgen, die hier beschrieben werden. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, wünsche ich genauso viel Spaß beim Sex, wie auch immer geartet dieser sein sollte! Mehr Input und Anregungen bei meinen Webinaren, TantraLounge oder Ausbildungsangeboten!
Quelle
Wilhelm Reich, Die Funktion des Orgasmus (1942 erste Edition) KiWi Paperback 10.Auflage 2014