Warum werden wir untreu? Die Antwort auf diese Frage ist unabdingbar, wenn wir verstehen wollen, was uns dazu bringt, unser Glück außerhalb einer Beziehung zu finden, denn obwohl sich über 90 % der Menschen sich Treue in der Beziehung wünschen, geht mehr als die Hälfte doch irgendwann fremd!

Wie der Paartherapeut und Autor Wolfgang Krüger in seinem Buch: Treue: Der Konflikt zwischen Vertrauen und Begehren behauptet, beginnt «Untreue […] meist mit einer Vereinsamung in der Partnerschaft». Im Allgemeinen – führt er fort – zeigt der Seitensprung, dass sich die Partner*innen längst entfremdet haben und dass ihre Bindung nicht mehr stark genug ist. Das ist aber nicht der einzige Grund, weshalb Menschen untreu werden…

Lass uns in den nächsten Abschnitten schauen, was für verschiedene Beweggründe geben kann, weshalb wir Menschen untreu werden.

1) Die ›Wetterlage‹ der Beziehung

Die innere ›Wetterlage‹ der Beziehung ist ein guter Maßstab, um herauszufinden, wie wetterfest Eure Verbindung ist. John Gottman, der bekannte nordamerikanische Paartherapeut, hat jahrzehntelang in seinem Love-Lab Paare wissenschaftlich beobachtet und daraus handfeste Schlussfolgerungen gezogen. Kurz gefasst beschreibt er vier Verhaltensweisen, die mit größter Wahrscheinlichkeit zur Entfremdung und Distanzierung zwischen den Partner*innen führen, ein Zustand, der uns untreu werden lassen könnte. Gottman nennt ziemlich zutreffend diese zerstörenden Verhaltensweisen die vier apokalyptischen Reiter: Kritik, Verachtung, Rechtfertigung und Mauern.

Bevor wir untreu werden, sollten wir uns um die ›Wetterlage‹ in unserer Beziehung anschauen…

Fragen

  • Wie kommuniziert Ihr mit einander, wenn etwas nicht passt?
  • Gibt es verbale Angriffe unter der Gürtellinie?
  • Gibt es nach einem Streit eisige Stille?
  • Findest Du deine*n Partner*in immer noch begehrenswert?
  • Würdest Du dich noch für ihn*sie entscheiden?

2) Angst vor Nähe

Angst vor Nähe kann das Ergebnis traumatischer Trennungserfahrungen aus der Kindheit sein. Die Trennung der Eltern oder die Geburt jüngerer Geschwister, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen oder eine frühe instabile Bindung zur Mutter führen oft zu einem ambivalenten Verhalten in Bezug auf Nähe: Wir wünschen uns zwar Nähe, haben jedoch gleichzeitig Angst davor, weil wir befürchten, wieder enttäuscht zu werden.

Beziehung könnte gewissermaßen so definiert werden: eine kunstvolle Gratwanderung zwischen dem Bedürfnis nach Nähe und Distanz. Zwischen dem Bedürfnis, sich gebunden und geborgen zu fühlen und dem Wunsch, autonom und frei zu sein. Zwei entgegengesetzte Bedürfnisse, die allerdings in uns allen schlummern, mal mehr das eine, mal mehr das andere. Einige Menschen schaffen, eine gute Balance zwischen den beiden Bedürfnissen immer wieder herzustellen und in ihren Beziehungen eine gute Dynamik zu etablieren.

Man könnte behaupten, dass – fast – jeder Mensch einen Konflikt zwischen Nähe und Distanz, Bindung und Autonomie, Gemeinsamkeit und Individualität hat: Wir brauchen einerseits die andere Person, denn wir sind nicht geschaffen, um allein zu überleben. Gleichzeitig müssen wir uns vorsehen, damit durch den anderen der eigene Lebensentwurf nicht gefährdet wird.

Ein ambivalentes Verhalten im Bezug auf Nähe kann deshalb dazu führen, dass man untreu wird…

Fragen

  • Wie fühlst Du dich, wenn dein Lieblingsmensch etwas allein – und/oder mit anderen – unternimmt oder ein Hobby intensiv pflegt, das Du nicht teilst?
  • Fühlst Du dich manchmal durch zu viel Nähe bedrängt?
  • Schickt dir dein*e Partner*in den ganzen Tag Liebesnachrichten und sagt dir ständig, dass er*sie nicht ohne dich leben kann?
  • Sucht er*sie immer wieder Körperkontakt und wirkt dabei bedürftig?
  • Hast Du einen eigenen Raum in der gemeinsamen Wohnung, die Möglichkeit, dich zurückzuziehen?
  • Möchtest Du lieber eine eigene Wohnung haben?
  • Wie viel Nähe hältst Du aus, ohne dich vereinnahmt zu fühlen?
  • Wie viel Autonomie hältst Du aus, ohne dich einsam zu fühlen?

3) Magic Moment

Wenn wir uns verlieben, wenn wir den magic moment erleben, den Moment, in dem wir erkennen, dass wir von jemandem mehr wollen, als einfach nur Freund*innen zu sein, projizieren wir auf die andere Person unsere unerfüllten Wünsche und Sehnsüchte. Die Persönlichkeit der anderen Person, ihr Körper, die Art und Weise, wie sie sich bewegt, wie und worüber wir uns unterhalten, lassen uns bestimmte äußere und innere Aspekte erkennen, die genau zu unseren Bedürfnissen passen.

Im Laufe der Zeit stellen wir eventuell dennoch fest, dass unsere Wünsche und Bedürfnisse doch nicht immer vom Gegenüber erfüllt werden. Wir stellen fest, dass sich die Verheißungen der ersten Zeiten doch nicht bewahrheitet haben. Das ist die Phase der Desillusionierung. Eine kritische Phase in einer Beziehung. In dieser Zeit können wir sagen, dass wir den ›realen‹ Menschen kennenlernen. In anderen Worten, dass wir nun mit seinen ›Schattenseiten‹ leben müssen.

Durch verschiedene Momente der Enttäuschung, der Kränkung entstehen unweigerlich Reibungen, die zum Verlust von Sehnsucht und Nähe führen. Wir möchten nicht ganz weg, aber auch nicht mehr so nah sein. Wir stellen uns auf eine mittlere Nähe ein, die kühler wirkt als die anfängliche Leidenschaft.

Untreue ist meist das Resultat einer Desillusionierung. Ja, es äußert sich meist durch Sex mit einer fremden Person und man könnte deshalb daraus ableiten, dass der fehlende oder nicht erfüllende Sex der Grund dafür sei. Wenn man etwas tiefer schaut, entdeckt man allerdings, dass der Sex zu Hause nicht mehr stattfindet oder nicht mehr erfüllend ist, weil die Beziehung an sich sich verändert hat. Weil man nicht mehr daran ›glaubt‹, weil man desillusioniert ist: Man kann nicht mehr vom Partner, von der Partnerin träumen.

Die Realität ist nicht so verlockend: Das Gras des Nachbars, der Nachbarin grüner. Diese leidenschaftslose Nähe ist der Nährboden für den Seitensprung, sie kann uns untreu werden lassen…

Fragen

  • Welche Bedürfnisse erfüllt Dein*e Partner*in, welche weniger… oder gar nicht?
  • Mit welchen Hoffnungen, Erwartungshaltungen, Phantasien bist du deine jetzige Beziehung eingegangen? 
  • Bist Du zufrieden in dieser Beziehung?
  • Wie gehst Du mit unerfüllten Wünschen in dieser Beziehung um?
  • Kannst Du dir vorstellen, die nächsten 5,10,20 Jahre mit ihm*ihr zusammen zu bleiben?
  • Wie ist die Intimität?
  • Gibt es genug Übereinstimmungen oder weichen die Wünsche und Vorstellungen zu sehr voneinander ab?
  • Gibt es genug Raum für Zärtlichkeit?

4) Langeweile in der Beziehung

Das gemeinsame Leben besteht nur noch aus Routine, aus lieb gewonnenen Gewohnheiten und wiederkehrenden Ritualen. Ihr seid ein gutes eingespieltes Team. Sicherlich keine schlechte Ausgangsbasis für eine gute Beziehung. Wenn aber auf Dauer kein frischer Wind weht, geht langsam die Luft raus. Unser Gehirn reagiert mit angenehmer Aufregung, wenn wir etwas Neues erleben. Plötzlich werden die Lebensgeister wieder wach, wir fühlen uns unternehmungslustig und lebendig. Was passiert, wenn dies nicht mehr der Fall ist?

Laut einer US-Studie ist die Langeweile der Ehekiller Nr. 1. Demnach kann uns Langeweile untreu werden lassen…

Fragen

  • Was unternehmt Ihr, damit Eure Partnerschaft lebendig bleibt?
  • Was machst Du, um dich als Mensch weiterzuentwickeln, lebendig zu bleiben?
  • Wie sehr hast Du dich ›aufgegeben‹, wie oft auf Dinge verzichtet, die dich lebendig fühlen lassen.
  • Habt Ihr eine gemeinsame Vision, ein Projekt, ein Hobby oder plant Ihr eine besondere Reise oder sonstige Unternehmungen?
  • Habt Ihr die Möglichkeit, Euch gemeinsam weiter zu entwickeln?

5) Gelegenheit und Mut

Untreue ist aber auch das Ergebnis von Gelegenheit einerseits und von Mut. Sicherlich fällt es einem ›leichter‹, sich für Treue zu bekennen, wenn man ehe kaum eine Chance hätte, untreu zu werden. Genauso spielt der Mut eine zentrale Rolle. Mut zur Veränderung, Mut, einen Sprung ins Ungewisse zu wagen. Viele Menschen bleiben in offensichtlich dysfunktionalen und/oder langweiligen Beziehungen, weil die Angst vor dem Alleinsein größer ist als der Mut, lieber alleine zu sein, als in einer unbefriedigenden langweiligen Beziehung. Oder weil man realistischerweise feststellt, dass die Wahrscheinlichkeit, eine*n bessere*n Partner*in zu finden, äußerst gering ist. Mangelnde Gelegenheit lässt uns nicht untreu werden…

Fragen

  • Wie schätzt Du deine Chancen, jemanden zu finden, der besser passen könnte?
  • Wie sehr schreckst Du von der Möglichkeit zurück, statt eine neue Beziehung zu leben, allein zu bleiben?
  • Wie wäre es, wenn Du doch irgendwann feststellen würdest, dass Dein*e Partner*in doch gar nicht so übel war, er*sie aber leider bereits vergeben ist?
  • Sind es ggf. Macht- oder Finanz-Verhältnisse, die einen Seitensprünge ermöglichen oder auch verhindern?

6) Seitensprung für das Selbstwertgefühl

Leidet aus irgendeinem Grund unser Selbstwertgefühl, wird es durch einen Seitensprung poliert und aufgepeppelt. Auch in diesem Fall spielt der Sex nicht wirklich die Hauptrolle dafür, dass wir untreu werden. Nur oberflächlich ist er der Beweggrund, das Mittel zum Zweck. Viel mehr als um den Sex an sich geht es oft um den Nervenkitzel und um die Eroberung. Durch den Seitensprung fühlt mann/frau sich von einem neuen Menschen begehrt.

Dass unser*e Partner*in uns begehrt, wissen wir bereits. Dieses Wissen nutzt in solchen Fällen wenig. Darum suchen wir jemanden neu, darum werden wir untreu. Das neue Begehren eines fremden Menschen elektrisiert uns, füllt das entleerte Reservoire unseren Selbstwertgefühls…

Fragen

  • Wie geht es dir in dieser Phase deines Lebens?
  • Fühlst Du dich erfüllt? Bist Du zufrieden mit dir und deinem Leben?
  • Neigst Du dazu, Bestätigung eher im Außen zu suchen als in dir selbst?
  • Hälst Du die Liebe und das Begehren deines Partners, deiner Partnerin als selbstverständlich?

7) Untreu werden ist nicht immer ein Symptom für Krise

Bis jetzt haben wir uns Beweggründe fürs Fremdgehen angeschaut, welche vor allem auf Mangel in der Beziehung, Mangel an Selbstwertgefühl oder Angst vor Nähe zurückzuführen sind. Das ist auch oft der Fall. Aber heute wissen wir, dass Seitensprünge auch dann passieren, obwohl die Beteiligten ihre Beziehung als glücklich erleben. Laut der Therapeutin Shirley Glass empfanden 56 Prozent der untreuen Männer und 34 Prozent der untreuen Frauen ihre Beziehung vor ihrer Affäre eigentlich als glücklich.

Auch der Paartherapeut Ulrich Clement berichtet von Paaren, bei denen alles bestens war und ein Partner dennoch untreu wurde. Clement halte es für falsch, «Fremdgehen immer als Symptom für etwas Gestörtes zu betrachten», und schreibt in seinem Buch Wenn Liebe fremdgeht, dass Untreue manchmal weniger mit der Beziehung an sich zu tun hat als mit den individuellen Beweggründen derjenigen Person, die den Seitensprung begeht. Denn ganz verschiedene Motivationen können Menschen dazu bewegen, fremdzugehen, zum Beispiel als Kompensation in besonderen Lebensphasen wie bei der Auseinandersetzung mit dem Älterwerden oder in kritischen belastenden Situationen, um der Verantwortung des Familienlebens  zu entgehen…

Fragen

  • Sehnst Du dich nach einer nährenden und inspirierenden Erfahrung, die neue Energien und Lebensfreude beschert?
  • Hast Du das Gefühl, überfordert zu sein?
  • Möchtest Du etwas ändern, aber fehlt dir die Kraft dazu?

8) Seitensprung aus Neugierde

«Manchmal kommt es gewissermaßen aus einer Lebendigkeitsmotivation heraus zum Fremdgehen», erklärt uns Ulrich Clement weiter. Durch eine neue Begegnung werden andere Aspekte unserer Person angesprochen, die in der aktuellen Beziehung keinen oder wenig Raum haben. Gerade am Arbeitsplatz oder an Orten, an denen Hobbys gelebt werden, bieten sich für viele ausreichend Gelegenheiten dafür, selbst dann, wenn die Menschen mit ihrem*r Partner*in zu Hause ganz zufrieden sind.

Ganz ausschlaggebend sind oft sowohl die räumliche Nähe als auch die gemeinsamen Interessen, die geteilt werden, die uns untreu werden lassen…

Fragen

  • Hast Du dich mal von einem*r Kolleg*in angezogen gefühlt?
  • Wie findest Du, ein gemeinsames Projekt zu teilen, ein gemeinsames Hobby zu haben?
  • Wie gehst Du mit der Art von Nähe, die entsteht, wenn man viel Zeit miteinander verbringt?
  • Wie gehst Du mit deiner Neugierde um?

Fazit

Untreue ist nicht gleich Untreue. Wie wir gesehen haben, ist zwar eine unlebendige Beziehung der Grund Nummer 1 fürs Fremdgehen. Die Untreue ist dann der Ausbruch aus der Resignation in der Beziehung. Der Seitensprung entsteht aus der Störung der Gemeinsamkeit. Die Partnerschaft ist routiniert, man hat sich arrangiert, lebt nebeneinander her. Die Beziehung sieht oberflächlich betrachtet harmonisch aus. Diese Harmonie besteht allerdings oft aus der Angst vor einem wirklichen Streit, der zum einen den Riss in der Beziehung deutlich machen, zum anderen aber auch die Chance zu einem Neubeginn beinhalten würde.

Es gibt aber auch andere Gründe, wie Angst vor Nähe, geschwächtes Selbstwertgefühl oder schlicht und ergreifend Gelegenheit und Neugierde.

Wie Wolfgang Krüger in seinem Buch schreibt, zeigen zahlreiche Umfragen, dass «die Untreue nicht in erster Linie die Lust auf ein sexuelles Abenteuer ist. Vielmehr ist das Desinteresse des Partners bei 54 Prozent aller Seitensprünge das Hauptmotiv». Oder das Bedürfnis nach Lebendigkeit, nach Abenteuer, das in uns allen mehr oder weniger stark ausgeprägt schlummert.

«Der nüchterne Begriff Desinteresse» führt Krüger fort, «lässt die seelischen Dramen kaum erahnen, die hinter der Untreue stecken. Die wahren Tragödien der Liebe werden durch die biologischen Erklärungsmodelle völlig verdrängt. Sie sind deshalb so beliebt, weil sie sehr schwierige Probleme auf eine einzige Ursache zurückführen und uns von jeder Verantwortung freisprechen. Nur Menschen mit einer extrem großen Angst vor Bindung streben die anonyme Sexualität an».

Quellen

Wolfgang Krüger: Der Konflikt zwischen Vertrauen und Begehren

Ulrich Clement: Wenn die Liebe fremdgeht

Psychologie Heute: Treue und Untreue

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